Was ist Angst? – Psychopathologische Definition und meine Erfahrung aus der Praxis

Es gibt grundsätzlich zwei unterschiedliche Ängste.

Das eine ist die Primärangst, die jeden Menschen innewohnt. Das heißt, dass wenn der Mensch in eine für ihn gefährliche Situation kommt, dann bekommt er Angst. Also wenn er wirklich real bedroht wird. Diese Angst ist eine gesunde und notwendige Angst, da der Mensch dadurch die Möglichkeit bekommt, zu reagieren und sich zu schützen.

Die zweite Angst ist die psychotische Angst. Das sind Ängste, die nicht durch reale Bedrohungen entstehen, sondern durch frühere Erlebnisse aus der Kindheit. Diese Angst kann sowohl erfahren und auch gelernt werden. Das heißt, wenn ein Kind in eine bedrohliche Situation (z.B. die Mutter schreit, der Vater ist cholerisch, körperliche Gewalt, Missbrauch, aber auch Androhungen von Verlassenwerden oder "Dann kommt der schwarze Mann und holt dich...") kommt, dann bekommt es Angst. Diese Angst ist in diesem Moment real und da das Kind abhängig von den Eltern ist, auch bedrohlich. Oft sogar gefühlt existenziell gefährlich. Es kann als Kind nicht adäquat reagieren und sich schützen, sondern ist der Situation ausgeliefert. Dann ist vielleicht auch niemand da, mit dem das Kind die Angst entlasten kann, z.B. durch weinen. Das Kind legt sich dann eine Angstabwehrstrategie zurecht und lernt sich und oder andere zu kontrollieren. Es versucht z.B. angepasst zu sein, um nichts verkehrt zu machen oder/und es spaltet seine Gefühle ab. Der menschliche Mechanismus hat verschiedene Strategien zur Verfügung, um die bedrohliche Angst zu vermeiden und zu verdrängen. Jedoch ist die Angst im Körperemotionalsystem gespeichert und erschafft auch das dementsprechende Verhalten.

Diese Speicherung kann dann später im Leben durch bestimmte Situationen ausgelöst werden.

Nehmen wir jetzt mal die aktuelle Corona-Situation. Real ist, soweit wir wissen, dass es einen Virus gibt, an dem Menschen sterben. Meist Kranke, Ältere und doch auch Jüngere. Wir wissen, dass eine Infektion Langzeitschäden haben kann. Und wenn zu viele Menschen sich infizieren, könnte das Gesundheitssystem eskalieren. Solange ich nicht infiziert und schwer krank bin, brauche ich jetzt nicht konkret Angst zu haben, jedoch brauche ich einen gehörigen Respekt (also ein kleines Stück der gesunden Angst) vor diesen Virus, um mich und vor allem auch andere zu schützen. Das bezeichne ich als die adäquate Reaktion auf die Situation.

Wenn Menschen in Panik fallen, sehr starke Angst haben infiziert zu werden, Hamsterkäufe machen usw., also extrem überreagieren, kann man davon ausgehen, dass es in der Vergangenheit / Kindheit angstbesetzte Situationen gab, die durch die momentane Situation wieder aktiviert werden. Die Situation wird bedrohlicher (verfälscht) erlebt als wie sie real ist = psychotische Angst.

Wenn Menschen die reale Situation verharmlosen oder sogar verleugnen, kann man davon ausgehen, dass es in der Vergangenheit / Kindheit bedrohliche Situationen gab, die verdrängt wurden und das System alles tut, um da ja nicht wieder hinzukommen. Verdrängung, Verleugnung und Rationalisierung sind wesentliche Abwehrmechanismen, die schon von Anna Freud definiert wurden. Ich erkläre mir alles und lege es mir so zurecht (verfälsche es), dass ich auf keinen Fall in das Gefühl meiner Angst komme = Angstabwehrverhalten durch Abwehrmechanismus.

Meist ist Verhalten ja unbewusst und der Mensch kann es nicht steuern.

Reichen die Abwehrstrategien nicht aus, kann es auch zu Angststörungen, Panikattacken, Phobien, Zwänge, Dissoziative Störungen, Somatische Störungen, Depression... kommen.

In meiner über 20-jährigen psychotherapeutischen Arbeit habe ich immer wieder erfahren, dass der Mensch riesige Angst hat vor Kontrollverlust und vor allem dem Gefühl der Hilflosigkeit. Denn genau dort findet sich der Gefühle existenzielle Abgrund des Wiedererlebens des kindlichen Traumas wieder.

Durch den Weg, die Kontrolle loszulassen und in die Angst reinzugehen und alle Gefühle, die zu ihr gehören, da sein zu lassen, kann die Abwehr und auch die Angst aufgelöst werden.

Die gesunde Angst brauchen wir, denn sie hilft uns, uns zu schützen.
veröffentlicht am 26.04.2021 · alle News-Meldungen anzeigen
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